Das meistbeschworene Mantra der Familienpolitik? – „Erwerbsarbeit der Eltern ist der beste Schutz vor Familienarmut.“ Kaum eine öffentliche Veranstaltung, auf der es nicht angestimmt wird. Es ist das Tremolo eines alten, überständigen Bildes von Familienpolitik. Es atmet den marktliberalen Odem sozialer Kälte, halb sachlicher Hinweis, halb Drohung: „Wenn ihr nicht, dann…“ Von den alltäglichen Überforderungen vieler erwerbstätiger Eltern und, ja, den Belastungen, den Kindern durch eine zunehmende Ausweitung der Kitabetreuungszeiten fernab der Familie ausgesetzt sind, will dieses Mantra nichts wissen, ebenso wenig davon, dass die immense Sorge- und Erziehungsarbeit von Eltern endlich als Dienst an der Gesellschaft durch eine monetäre rentenwirksame Sozialleistung und Kinderfreibeträge in der Sozialversicherung anerkannt werden müsste.
Allein, das Mantra ist nicht aus der Luft gegriffen. Die Geburtsstunde seines Geistes in der Geschichte der deutschen Familienpolitik lässt sich exakt bestimmen: Im November 2004 veröffentliche die damalige Familienministerin Renate Schmidt ein Positionspapier mit dem Titel „Bevölkerungsorientierte Familienpolitik – ein Wachstumsfaktor.“ Die Mitautoren: Der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) und das Institut der Wirtschaft Köln (IW). Das folgenreiche Papier läutet eine neue Ära der Familienpolitik ein: Verabschiedet werden der Selbstwert der Familie und der solidarische Gedanke gesellschaftlicher Gerechtigkeit. Aus der Taufe gehoben wird dagegen eine Politik, die Familie im Geist einer reinen Zweckrationalität für Arbeitsmarkt und Industrie instrumentalisiert. Ihr vorrangiges Ziel: Eltern so schnell wie möglich wieder dem Arbeitsmarkt zuzuführen. Ihr Instrument: Die Einführung eines einkommensabhängigen Elterngeldes für maximal zwölf Monate. So „werden die Anreize erhöht, früher in den Job zurückzukehren. Eine mehrjährige Abwesenheit vom Arbeitsplatz führt zu einer Lücke in der Erwerbsbiografie und begründet die Gefahr einer Dequalifikation der Beschäftigten“, heißt es auf Seite 17. Weiter behauptet das Papier, dass in Deutschland Frauen, „extrem lange für die Kinderbetreuung aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden“ (S. 14). „Gute Erfahrungen aus Schweden sprechen überdies für eine kürzere Elternzeit und die Kopplung des Erziehungsgeldes an den Nettolohn“, heißt es weiter. „Mit solchen Maßnehmen einhergehen muss aber in jedem Fall der Ausbau der Kinder- und Ganztagsbetreuung.“ 15 Jahre nach seiner Veröffentlichung trägt das Bundesfamilienministerium mit dem sogenannten „Gute-Kita-Gesetz“ und dem Ausbau der Ganztagsbetreuung an Grundschulen genau diese Forderungen des Papiers weiter sorgfältig ab. Ursula von der Leyen schaffte damals die Grundlagen. Sämtliche Familienministerinnen bis heute folgten ihr buchstäblich. Wer die aktuelle Familienpolitik verstehen will, muss diesen 22-seitige unterkühlten Longseller der Familienpolitik kennen. Mit seinen Gedanken einer „Bevölkerungsorientierten Familienpolitik“ und der Reduzierung von Familie als ökonomischen „Wachstumsfaktor“ ist es zum überparteilich und überzeitlich gültigen Manifest der Familienpolitik geworden. Familien- und Wirtschaftspolitik bilden darin eine unheimliche Allianz. Die Grauen Eminenzen der Familienpolitik sind längst keine familienfördernden Verbände mehr. Es ist das nächtliche Heulen der Industrie! Eltern und Kinder im Zerrbild eines ökonomischen Menschenbildes – damit dürfen wir uns nicht abfinden! Denn Wohl und Selbstwert der Familie sind unantastbar!
Auf diesen Glutkern der Familienpolitik hat der Politologe Bernhard Suttner auf der jüngsten Bundesdelegiertenversammlung des Familienbundes der Katholiken unter dem Titel „Innovative Konzepte für eine familienfreundliche Zeitpolitik“ im Oktober 2019 in Berlin treffend hingewiesen. Sein ernüchternder Befund: Unsere Wachstums- und Beschleunigungsgesellschaft ist familienfeindlich. Der Staat habe sich beim Kampf um das tägliche 24-Stunden-Rennen parteiisch auf die Seite der Arbeitsmarktakteure geschlagen. Sein Fazit: „Es geht gar nicht um Familie. Es geht um Wirtschaft.“ Dagegen setzt er ein Zeitverständnis, das den Bedürfnissen von Familien entspricht: „Zeit muss in ausreichender und ungeplanter Menge zur Verfügung stehen, damit wichtige zwischenmenschliche Probleme und wichtige positive Ereignisse nicht warten müssen.“ Politisch plädiert er für die Einführung bezahlter Care-Arbeit: „Fangen wir doch erst einmal damit an, tatsächlich erbrachte, gesellschaftlich wertvolle und personal befriedigende Arbeit zu honorieren oder doch wenigstens mit dem Anspruch auf eine ordentliche Altersversorgung auszustatten! Bezahlte Care-Arbeit würde das Familienleben vor allem im Alleinerziehungsfall wesentlich entspannen. Sie wäre das Ende der problematischen Vereinbarkeitsverpflichtung.“
Die familienpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, Katja Dörner, forderte in ihrem Vortrag auf der Tagung eine familienfreundliche Arbeitswelt und ein neues Verständnis von Zeitsouveränität. Dafür müsse es eine Abkehr vom ungesunden Dreiklang von Zeitdruck, Hektik und Stress geben, der für viele Familien mit Kindern noch immer leidiger Alltag sei. Mit Bedauern blickt Döner denn auch auf die „Leerstelle im Bereich der Zeitpolitik“ der aktuellen Familienpolitik. „Mit unserem Konzept der flexiblen Vollzeit wollen wir einen Arbeitszeitkorridor von 30 bis 40 Wochenstunden einführen, in dessen Rahmen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer selbst über ihre Arbeitszeit entscheiden.“ Kern grüner Zeitpolitik für Familien ist neben weiteren Maßnahmen die „KinderZeitPlus“. Eltern soll damit ermöglicht werden, „ihr Leben so zu gestalten, wie sie es sich wünschen: als partnerschaftliche Aufteilung von Erwerbs- und Familienarbeit. Diese Aufteilung unterstützen wir konkret durch die Verlängerung der Vätermonate. Und durch Anreize für Väter, ihre Arbeitszeit zu reduzieren. Gleichzeitig schaffen wir Anreize für Mütter, wieder berufstätig zu sein, ohne sofort in die Vollzeit zu müssen.“ Die KinderZeitPlus ergänzt das Elterngeld um eine flexible Lohnersatzleistung über die ersten 14 Lebensmonate des Kindes hinaus, wenn die Eltern mindestens halbtags arbeiten. Anstatt der bisherigen 14 Monate Elterngeld, sieht unser Modell insgesamt 24 Monaten vor: acht Monate für den einen Elternteil und acht Monate für den anderen Elternteil. Acht weitere Monate können die beiden untereinander aufteilen. „Damit erhöhen wir die Beteiligung der Väter, wenn die Eltern die KinderZeitPlus voll ausschöpfen wollen“, sagte Dörner. „Alleinerziehenden stehen die vollen 24 Monate zur Verfügung.“
Die auf Zeitpolitik spezialisierte Wissenschaftlerin Karin Jurczyk ist ebenfalls enttäuscht über die „gegenwärtige Flaute“ der Familienzeitpolitik. Ihr Befund auf der Tagung des Familienbundes: „In der Realität der letzten Jahre sehen wir Stillstand, kleine Schritte, gute Ansätze und einige mutige, aber nicht unbedingt zielführende Vorschläge.“ Jurczyk denkt Care ganzheitlich, gesamtgesellschaftlich und über den gesamten Lebensverlauf. Sie favorisiert die Einführung eines Optionszeitbudgets. Danach wird jeder Person ein bestimmter Anteil seiner Lebensarbeitszeit für relevante gesellschaftliche Tätigkeiten zur Verfügung gestellt. „Im Kern steht die private und soziale Sorgearbeit zugunsten der Gesellschaft, das heißt die Fürsorge für Kinder, Alte und Kranke, sei es im familialen Rahmen oder auch als Ehrenamt.“ Das Zeitvolumen für Care beläuft sich auf sechs Jahre, die sich aus drei Jahren für Kinderbetreuung, ein bis zwei Jahre für Pflege sowie einem halben bis einem Jahr für das Ehrenamt errechnen. „Ein wesentliches Ziel des Optionszeitenmodells ist, neben der Minderung der Care-Krise auch die geschlechterspezifische Zuordnung von Care abzubauen“, so Jurczyk. Dafür bedürfe es nach ihrer Konzeption einer Entgeltersatzstruktur sowie eines Finanzierungsrahmens.
Alle Vorträge auf der Tagung des Familienbundes, die wir in dieser Ausgabe dokumentieren, zeigen, dass es zahlreiche, vielversprechende, lösungsorientierte und hoch innovative Maßnahmen gibt, um Zeitpolitik für Menschen entlastend, flexibel und geschlechtergerecht zu organisieren. Sie lassen das Mantra von der Erwerbsarbeit, die vor Familienarmut schützen soll, als das aussehen, was es ist: schal und engherzig, mutlos und kalt. „Ja“, schreibt Suttner, „die Familie ist bedroht. Sie ist bedroht durch die totale Ökonomisierung unseres Lebens und durch die damit zusammenhängende Reduzierung der Familienzeit.“ Auch der einseitige Ausbau institutioneller Kinderbetreuung ist allein keine Lösung: „Es sei daran erinnert, dass stabile Familien für demokratische Gesellschaften unverzichtbar sind: Menschen mit positiver, frühkindlicher Bindungserfahrung sind die Voraussetzung“, so Suttner. Dafür brauchen Kinder zuvörderst die Eltern. Wie aber sollen auf Jahre personell unterbesetzte Kitas die Bindungsfähigkeit von Kindern stärken? Hinzu kommt: Ein Kitaausbau ist keine verantwortliche Zeitpolitik für Familien! Was Familien brauchen, ist mehr Zeit für- und miteinander, nicht weniger. Politik muss Care-Arbeit angemessen finanziell honorieren. Sie darf nicht den steigenden Druck einer entgrenzten Arbeitswelt auf Eltern und Kinder wälzen, der schließlich die Bindungskräfte unserer Gesellschaft gefährdet. Care ist keine Einbahnstraße. Staat und Wirtschaft haben dazu endlich ihren Beitrag zu leisten. Es ist die Zeit gekommen, in der Eltern und Kinder die Souveränität über ihre Zeit zurückfordern. Es ist höchste Zeit für einen Paradigmenwechsel in der Familienpolitik!
Ulrich Hoffmann,
Präsident des Familienbundes der Katholiken
KOMMENTAR: Wer bestimmt die Familienpolitik?
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