Auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung lohnt es sich, die Familienbilder in Ost und West anhand der reichen Studienlage noch einmal zu durchmustern. Der Erkenntnisgewinn könnte mit Blick auf die Gegenwart kaum größer sein. Wir erinnern uns: In der Bonner Republik der Nachkriegszeit war auf der Basis einer noch jungen, mit christlichen Grundwerten durchzogenen Verfassung die Freiheit und Individualität der Familie bestimmend. Allerdings steckten die Rollenbilder in allzu traditionellen Korsetts. Der Anspruch auf Geschlechtergerechtigkeit war fern: Während der Ehemann und Vater als Alleinverdiener das Geld nach Hause brachte, fiel der Ehefrau und Mutter die Familienarbeit zu. Da sind wir heute zwar weiter, aber leider nicht viel. Frauen mit Kindern, die damals eigenständiger Erwerbsarbeit nachgingen, sollten noch lange als „Rabenmütter“ stigmatisiert werden. Dagegen feierte der Sozialismus der DDR die „werktätige“ Frau. Arbeit war Staatsziel, selbst übernommene Erziehungsarbeit stand indes leicht im Verdacht des „Schmarotzertums“. Werkbank und Bürotisch mussten als „Kampfplatz für den Frieden“ besetzt sein. Natürlich erwiesen sich auch Fachkräfte in der Planwirtschaft als unentbehrlich, um das Schwungrad der Ökonomie am Laufen zu halten. Die Familienpolitik der DDR, sie war klar bevölkerungs- und arbeitsmarktorientiert. Die doppelte Erwerbstätigkeit der Eltern führte auch unter den Bedingungen eines nahezu alternativlosen und straff organisierten Krippen-, Kindergarten- und Ganztagsschulsystems zu einer doppelten Belastung der Frauen. Von einer qualitativ hochwertigen Betreuungssituation konnte in der „Diktatur des Proletariats“ nicht die Rede sein, so wenig wie von Geschlechtergerechtigkeit.
Wie wir wissen, ging die Zeit über die DDR hinweg; ihre Familienbilder sind hingegen erstaunlich gegenwärtig: Die heute propagierte doppelte Erwerbstätigkeit der Eltern, um Familienarmut zu verhindern, der Ausbau von Kitas und Betreuungsplätzen in der Grundschule, die gleichwohl krankende Betreuungsqualität, der Mangel an Fachkräften für die Wirtschaft im Allgemeinen und der von Erziehungspersonal in Kitas und Schulen im Besonderen, die konsequente Bevölkerungs- und Arbeitsmarktorientierung der Familienpolitik und ein Freiheitsbegriff von Familien, der mehr und mehr unter Druck gerät – verleiht all das nicht unserer heutigen Familienpolitik unter den Bedingungen von sozialer Marktwirtschaft das zweifelhafte Gepräge von Postsozialismus? Vergleichen ist nicht gleichsetzen. Gewiss, in unserer Demokratie haben Eltern zum Glück die Wahl. Doch es lässt sich spüren: Die weiter zunehmende Ökonomisierung von Politik und Lebenswelt lässt die Luft dünner, die notwendige Zeit für Familie und Bindungen knapper und elterliche Spielräume enger werden. Geschichte, sie scheint sich mitunter doch zu wiederholen. Wann gewinnt aber der Mensch jenseits ost-westlicher Wechselfälle der Politik den Vorrang vor der Ökonomie? Papst Franziskus hat ihn in seinem Apostolischen Schreiben „Evangelii gaudium“ zum eindringlichen Postulat unserer Zeit erhoben!
Ulrich Hoffmann, Präsident des Familienbundes der Katholiken