Berlin, den 25. September 2018 – Mit Betroffenheit und Bestürzung reagiert der Familienbund der Katholiken auf die heute von der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda offiziell vorgestellten Ergebnisse einer Studie, die erstmals den Umfang von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche in der Zeit von 1946 bis 2014 in Deutschland untersucht. In den Akten der Bistümer sind danach mindestens 3.677 Kinder und Jugendliche als Opfer sexuellen Missbrauchs durch katholische Geistliche dokumentiert. 1.679 Kleriker sollen sich schuldig gemacht haben, oftmals aus „sexueller Unreife“, wie die Forscher schreiben. „Im Dickicht der kirchlichen Strukturen ist es zu sexuellem Missbrauch Minderjähriger in einem für mich unvorstellbaren Ausmaß gekommen“, sagte Familienbund-Präsident Becker anlässlich der Veröffentlichung heute in Berlin. „Machtmissbrauch und Vertrauensbruch haben unfassbares Leid über Schutzbefohlene der Kirche und deren Familien gebracht. Das macht mich tief betroffen. Die unheilvolle Art und Weise, wie in den zurückliegenden Jahren verheimlicht und vertuscht wurde, kann nicht akzeptiert werden. Die Kirche – und damit meine ich Bischöfe, Priester, Ordensleute und Laien – muss jetzt unverbrüchlich an der Seite der Opfer stehen, ungeachtet des eigenen Ansehens! Mit Blick auf die Zukunft kann das nur heißen: Die Kirche muss weiter sämtliche Register einer umfassenden Präventionsarbeit ziehen. Kompromisse darf es dabei nicht geben!“ Wesentlichen Anteil am großen Ausmaß des sexuellen Missbrauchs habe nach Beckers Worten auch die Tabuisierung von Sexualität in der Kirche. Eine grundlegende Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs sei nur möglich, wenn sich die Kirche einer offen geführten Sexualitätsdebatte stelle. Die Zeit dafür sei reif, so Becker.
„Eine der Lehren, die wir aus den Missbrauchsfällen der Kirche mit Blick auf Familien ziehen müssen, lautet“, so Becker: „Ertüchtigen wir unsere Kinder frühzeitig, sich gegen die Gefahren sexuellen Missbrauchs zu wappnen. Erziehen wir unsere Kinder zu selbstbewussten Menschen, die wissen, dass nur sie es sind, die ein Recht an ihrem eigenen Körper haben. Sensibilisieren wir sie behutsam und ermöglichen ihnen so ein entschiedenes Nein, wenn sich Dritte ihrem Körper nähern wollen. Und stärken wir die Eltern. Wie können sie erkennen, ob ihr Kind bedrängt wurde? Und wie können sie reagieren? Bei dieser Aufgabe sind Staat und Kirche gefordert, systematisch kind- und familiengerechte Angebote zu schaffen.“
Zur heute veröffentlichen Studie sagte Becker: „Angesichts des großen Dunkelfeldes, auf das die Forscher in ihrer Studie mehrfach hinweisen, müssen jetzt die Bistümer für detaillierte Aufarbeitung von unabhängiger Seite sorgen. Das Licht der Aufklärung menschlichen Unrechts darf mit der Veröffentlichung dieser Studie nicht erlöschen. Dunkelräume darf es in der Kirche nicht mehr geben, weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft. Und keine Strukturen, die sie ermöglichen und decken.“ Nötig sei nicht weniger als ein grundlegender Kultur- und Bewusstseinswandel der Kirche. „Ein Null-Toleranz-Verhalten, wie von Papst Franziskus gegenüber sexuellem Missbrauch gefordert, muss gelebt werden, in allen Gliederungen, auf allen Ebenen kirchlichen Lebens. Verdachtsmomenten muss entschieden nachgegangen und Recht konsequent angewendet werden“, sagte Becker.
"Das Leben von Familien muss auch künftig der Mittelpunkt der Kirche sein können“
Macht- und Gewissensmissbrauch sind nach Beckers Einschätzung entscheidende Voraussetzung für den sexuellen Missbrauch in der Kirche. „Der Klerikalismus hat dazu geführt, dass Täterschaft in den kirchlichen Reihen vielfach gedeckt und der Blick auf die Opfer vermieden wurde. Die erfolgreiche Überwindung dieser Geisteshaltung wird wahrscheinlich die Zukunft der Kirche maßgeblich mitbestimmen. Nepotistische Strukturen, die menschliches Unrecht akzeptieren, dürfen in der Kirche nicht mehr möglich sein. Das Leben von Familien muss auch künftig der Mittelpunkt der Kirche sein können.“
Die Autoren der Studie zählen vor allem auch den kirchlichen Umgang mit dem Thema Sexualität zu den vorrangigen Risikofaktoren für das Entstehen von sexuellem Missbrauch. „Eine gründliche Aufarbeitung des Missbrauchs wird nur dann möglich sein, wenn die Kirche ihren Begriff von Sexualität umfassend diskutiert und neu bewertet. Dazu kann ich nur dringend raten“, sagte Becker. „Eine Tabuisierung des Themas mit dem gleichzeitigen Anspruch einer rigiden sexualmoralischen Normierung erweist sich innerkirchlich als ein idealer Nährboden für unreife Sexualität, die sich in Missbrauch an Kindern und Jugendlichen ungezügelt Bahn bricht“, so Becker. „Fest steht heute vor allem: Der Weg der Kirche, missbrauchtes Vertrauen zurückzugewinnen, wird lang sein. Als erste zivilgesellschaftliche Institution Deutschlands in einer umfangreichen Studie – auch wenn diese Schwächen hat – einen Beitrag zur Aufklärung geleistet zu haben, ist dazu ein erster Schritt. Weitere müssen folgen.“